WER IST PADIAMÉNOPÉ?
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DER LITERATURLIEBHABER

 

FRANZ KAFKA, DICHTERFÜRST: Thronend ewiglich auf dem Parnass...    

 

 

Franz Kafka: ICH DANKE DIR!!! OHNE DICH KEIN SCHREIBEN!!!

 

Es gibt nichts weiter zu sagen: Nur HOMER, SHAKESPEARE, THOMAS MANN UND KURT VONNEGUT SIND ES WERT, NEBEN F. KAFKA GENANNT ZU WERDEN. ICH VEREHRE ZUDEM: DANTE ALIGHIERI, STÉPHANE ZAGDANSKI & ECKHARD HENSCHEID. Viele mehr, aber nicht so sehr... Zeigt, nennt mir BESSERE, ich lese gern! Wirklich sehr gern!

ACH, FRANZE KAFKY...


Weinend stand ich an seinem Grab
Las jede Zeile und jeden Brief von ihm
Dem Müßiggang schwor in Prag ich ab
Begann zu schreiben, zögerlich, sublim...

 

 

 

   EMPFEHLENSWERT!

 

Nur nicht ungeduldig werden... Weitere Werke werden online gestellt. Im Laufe des Jahres.

 

Und ich lese auch noch recht gern: Fjodor M. Dostojewski, Friedrich Dürrenmatt, Samuel Beckett, Heinrich Böll, Wenedikt Jerofejew, Aleister Crowley, Tennessee Williams, Ken Kesey, William Kotzwinkle, R. M. Rilke, Dante Alighieri, Eckhard Henscheid, J. D. Salinger, Robert Gernhardt, Heinrich Heine, Kurt Vonnegut - und Hunter S. Thompson.

 

  

DAS WÄRE DANN DER EINBAND ZU MEINEM SHORTSTORYBUCH "schörty schix scharp schort schdori schatts" (Endlich fertig! Ende 2013!)

 

 

Und es geht doch.... (KAFKA)

 

(eine Mut machende, sehr private Erzählung zu CHANUKKA 5774) © Gherkin 2013

 

Ich hebe sehr langsam den Kopf. Du kennst das sicher - mit Sicherheit weißt du, da ist noch jemand im Zimmer. Du weißt auch, dass diese Person keine direkte Gefahr darstellt, und sei es auch nur für diesen Moment. Unsere Ur-Instinkte funktionieren auch dann noch, wenn wir die muffige, graustufige Alltagspanzerung des abgestumpften Großstadtdschungel-Einzelkämpfers über die demolierte Psyche gestreift haben. Wir „hören“ nur die Signale nicht mehr so deutlich. Aber Instinkt und Intuition des einstigen Höhlenmenschen lauern noch immer in jedem von uns. Und so weiß ich also, da ist noch jemand im Raum. Es geht keine direkte Gefahr von dieser Person aus. Aber ich werde sehr aufmerksam beobachtet. Mir fällt eine Textstelle aus einem Buch ein, das ich vor vielleicht 25 Jahren einmal gelesen habe. Dort ist ein Goldgräber in seiner Grube damit beschäftigt, eine weitere Goldader freizulegen - als er das untrügliche Gefühl verspürt, dass von oben, vom Rand der Grube also, Gefahr droht. Dort steht jemand und hält eine Waffe auf ihn gerichtet. Sobald er sich umdrehen wird, geht diese Waffe los. Das weiß der Mann. Schwitzend, angestrengt nachdenkend, gräbt der Mann in der Grube weiter. Solange er seinen Rücken zeigt, droht keine Gefahr. Er weiß auch, es ist sein Kompagnon, der dort oben steht und mit dem Revolver auf ihn zielt. Der bislang getreue Gefährte dieses sehr harten, entbehrungsreichen Einsiedler-Lebens hat sich zum Wolf, zum bösartigen Tier gewandelt. Blanke Gier nach dem kompletten Claim bricht in spürbaren Wellen aus ihm hervor und trifft auf den in Todesangst schaufelnden Mann unten in der Grube. Eine nahezu hoffnungslose Lage. Gedächtnislücke: Mir fällt auch bei angestrengtem Nachdenken nicht ein, ob und gegebenenfalls wie sich der arme Mensch gerettet hat oder wie diese Geschichte überhaupt ausgegangen ist. Doch exakt die Szene grub sich tief in meinen Kopf ein - das erbarmungslose Wissen des Grabenden um die Lebensgefahr, ohne Chance auf Überprüfung des Tatbestandes. Eine sozusagen nahezu kafkaeske Szene.... Und Kafka ist hier, in Prag, ja nun wirklich nicht weit weg!

 

Als mein Blick in den Spiegel fällt, sehe ich das bleiche, markante Gesicht und erschrecke wegen der Ungeheuerlichkeit des Augenblicks. Tausend jähe Gedanken schießen mir durch den arg verwirrten Schädel. Es kann ja nicht sein, schrillt es da in meinem Kopf, es kann nicht sein. Doch diese unglaublichen Augen ziehen mich magisch an, halten mich in ihrem Bann gefangen. Welch ein Augenpaar! Schwarz, düster, in tief liegenden Höhlen, geheimnisvoll, melancholisch und sehr ernst. Ein tiefer, analysierender Blick, schonungslos klar und so unglaublich ....bittend?, verzeihend?, ja, fragend? - nein, der Blick ist wissend! „Herr Doktor“, rufe ich halb laut, ein wenig überrascht und auch nur geringfügig schüchtern. „Ich hatte Sie hier nicht erwartet!“. „Und das, obschon mich nahezu jeder gerade hier wohl erwartet“, sagt der dunkel gekleidete Mann nachdenklich und ruhig, mit etwas belegter Stimme, aber in klarem Deutsch und sehr bedächtig. Ich wende mich um. Er sitzt auf dem Bett, hat die Beine steif übereinander geschlagen, glättet eine Falte seines Leibrocks und wischt sich etwas linkisch die imaginären Staubpartikel vom Hosenbein. Meine Bewunderung ist grenzenlos. Dieser Mann weiß das, aber (und das weiß ich!) - er lehnt Bewunderung und Personenkult ab. Eine Bewegung seiner linken Hand soll dies andeuten - doch er führt sie nur halb aus. „Wie soll ich Sie anreden?“, frage ich gespannt. Diese Begegnung.... Und das in einem eher öden Hotelzimmer eines öden Stadtviertels knapp außerhalb Prags. „Nenn mich Amschel - und sag endlich du, Etikette scheint mir hier nicht so recht angebracht“. Seine Antwort kommt leise und klingt ein wenig müde. Wieder seufzt der bleiche Mann, fährt mit dem rechten kleinen Finger die markante Linie seiner rechten Augenbraue entlang, hält inne - so, als ob er sich des absurden Handelns im gleichen Augenblick bewusst geworden wäre, wendet den klassisch schönen Kopf mit den hohen Wangenknochen und legt nach: „Es wäre schön, wenn wir ein wenig Spazieren gehen könnten!“. Anstelle einer Antwort kleide ich mich langsam an. Dezent wendet sich Amschel ab. Einen sensibleren, schamhafteren, seelenvolleren Menschen habe ich wohl noch nie so nahe bei mir gehabt. Ein Schauder überfährt meinen Körper, läuft hinab bis in die Kniekehlen - ich suche erneut den direkten Blickkontakt. Diesem Blick entspannt zu begegnen ist nahezu unmöglich. Denn du fühlst dich ertappt, entwaffnet, durchschaut und auf ein Minimum reduziert, was Persönlichkeit, Intelligenz und Charakterfestigkeit angeht. Schweigend sehen wir uns an. „Wohin werden wir gehen?“, frage ich sanft. Amschel winkt lasch. Wie viele seiner Bewegungen ist auch diese nur halb (schlaff) ausgeführt bereits zu Ende. Ich erhebe mich und folge seinen Schritten.... Den Aufzug nimmt er nicht, er wählt die Treppe. Vom 4. Stock begeben wir uns hinunter auf die Straße vor das Hotel. Dort zieht „mein“ Doktor einen Schal aus der Manteltasche und wickelt ihn sich umständlich um den Hals. Es ist kalt in Prag. November.... Schweigend gehen wir nebeneinander her.

 

Am Bahnhof zeigt sich das ganze Dilemma der neuen Zeitrechnung in der Tschechei. Gut erhaltenes, wunderschönes und bezauberndes Prag einträchtig neben Zerfallenem, Verwahrlostem und aller Würde Beraubtem. Die Hände tief in den Taschen des aus schwerem Tuch gearbeiteten Wintermantels vergraben, verharrt mein Begleiter in einem Seitentrakt.

 

Dort setzt sich eine Fixerin, weitab von gierigen Touristenblicken, einen „Morgenschuss“. Ich sehe etwas verlegen zu, Kafka aber drückt seine Nase an der blinden Fensterscheibe zu einer abgelegenen, verwahrlosten Halle platt, die keinerlei Aufgaben mehr zu erfüllen scheint. Verschlossen und unzugänglich, denke ich, so, wie viele deine Werke finden, Amschel. Wir bewundern beide die herrliche Jugendstil-Kuppel des Herrn Fanta. Lange stehen wir also schweigend da, die Köpfe weit zurück gebeugt. „Zerfall ist ein Prozess, ein irgendwie traurig-schöner Prozess!“. „Und von Prozessen verstehst Du ja wirklich etwas, Amschel“, wage ich etwas jovial und kokett einzuwerfen. „Diese neue Zeit ist ein katastrophaler Segen“, seufzt Kafka, „was wird aus Prag, was wird aus meinem Land? Ich komme nur noch selten her. Alles ist verwirrend und irgendwie unwirklich für mich. Sicher, einiges kenne ich noch so, wie es sich noch heute darstellt. Doch vieles kann ich mir nicht erklären, für so viele Dinge weiß ich keinen Namen; und ich verstehe und begreife die Menschen nur noch oberflächlich, nicht mehr im Kern ihres Wesens. Was wollen sie alle? Wohin streben sie? Welche Werte verkörpern diese mitunter schleichenden, manchmal huschenden, dann wieder bewegungslos still stehenden Schattenwesen? Form, Struktur, Inhalt - hilf mir, wohin geht der Weg?“. Ich sehe seine Verzweiflung, sie ist echt. Ich nehme ihn in den Arm. „Doktor, lieber Doktor“, flüstere ich fast flehend und ziehe ihn weg, in das Getümmel, ins Leben hinein, „immer diese schwermütigen Gedanken. Sieh die lachenden Gesichter, betrachte hier den Kaufmann, der mit Hingabe seine Schaufensterscheibe wienert - schau dort, das kleine Mädchen mit dem Lutscher.... Und sieh hier, der Junge mit dem Skateboard!“. Postwendend kommt die Frage: „Was um Himmels willen ist ein Skateboard?“. Kafka klingt merkwürdig kehlig, als er das für ihn völlig fremde Wort in seinem Munde dreht und zerfließen lässt. Ich lasse die Frage letztlich unbeantwortet --- sie ist zudem, wie ich wohl weiß, lediglich rhetorisch gemeint gewesen. Oh, es ist immer noch schön am Wenzelsplatz, es macht mir Freude, am Altstädter Ring zu stehen, die Karlsbrücke ist sehr belebt und wir sind umzingelt von Touristen, die in einem wahren Sprachengewirr dicht gedrängt an den Zeichnern, Malern und Karikaturisten vorüber ziehen. Wir werden angestoßen, auch beiseite gedrängt und mitunter auch mal am Weitergehen gehindert. Amschel ist diese Menschenmassen nicht gewohnt. Er versucht auszuweichen, er hofft auf die „ideale Linie“, um unbeschadet, bar jeden Kontaktes, über jene berühmte Karlsbrücke zu kommen. „Wir hätten nicht hierher kommen sollen“, stößt es heiser aus ihm heraus. „Babylon mit den tausend Zungen! Ich will hier weg!“. Mit einem sehr schönen, sehr großen Taschentuch, auf dem ich die Initialen F.K. eingestickt bemerke, wischt er sich den Schweiß von der Stirn. „Gehen wir doch ins ‚Café Slavia‘, Dottore“, schlage ich vor. Nickend willigt Amschel ein, schneller werden seine Schritte. Wir gehen einige Zeit, bis wir beim Café Slavia sind. Ich betrachte die Oper gegenüber voller echter Bewunderung. „Ein Prachtbau!“, bemerke ich, doch Kafka antwortet nicht. Im „Slavia“ wogt die Menge an dutzenden von kleinen Tischchen. Nicht gar so viele Touristen, stelle ich fest, doch auch eine Menge Einheimische - oder, anders gesagt, eine Menge Tschechen. Mein bleicher Begleiter bestellt eine Wiener Melange, ich selbst bestelle einen Lindenblütentee. Schweigend sehen wir uns um, wir haben direkten Blickkontakt zu jenem Gemälde, das mich bereits seit meiner Jugend fasziniert. Wenn ich den Ober richtig ver- standen habe, heißt der Künstler, der dieses Werk geschaffen hat, Petr (?) Olivan oder so ähnlich. „Absinth“ nenne ich das Gemälde - wie es wirklich heißt, weiß ich nicht. Ich könnte Kafka fragen, lasse es jedoch nach einem langen Blick in sein Gesicht. Ein klassisch schönes Gesicht, mit, wie soll ich sagen, melodramatischem Ausdruck. Leidend? Ja, etwas leidend... Wohl auch sehr krank, sicher - aber in erster Linie leidend, doch fern von jedem Selbstmitleid. „Erzähle mir ein wenig von Dir, Herschel!“, leise dringt seine eindringliche Stimme an mein Ohr. Inmitten dieses Gewusels von Obern, Serviermädchen, neu ankommenden Gästen und stetig nach draußen drängenden Menschen beginne ich, dem Autor Dr. Franz Kafka meine Lebensgeschichte zu erzählen. Versonnen betrachtet dieser dabei das Operngebäude durch das mächtige Fenster im Café Slavia. Er ist viel zu gefühlvoll, mich jetzt direkt anzublicken. Ich sage alles, erzähle von meiner Jugend zwischen Judentum und Christentum, hin und her gewürfelt, ein Spielball der Willkür Erwachsener; für mich war es als Kind kaum mehr nachzuvollziehen, was ich darstellte, wo ich wirklich hin gehörte und wer ich letztlich war. Ich erzähle markante Episoden, Geschichten, die mich als Kind verwirrten und meine Psyche verdunkelten. Vieles begriff ich nicht, vieles habe ich bis heute nicht begriffen. Wie grausam Erwachsene doch sein können - besonders dann, wenn sie nicht erklären, warum sie dies oder jenes tun. Wie grausam andererseits aber auch Kinder sein können, die es nicht besser wissen - „Anders sein“ ist ein schweres Erbe. Ich rede mich in Rage, komme in Fahrt, bewege beim Sprechen die Arme und Hände, erkläre und fuchtele dabei, so, als könne ich die Vergangenheit beschwören, gefälligst einen anderen Verlauf nehmen zu wollen. Kafka lächelt gequält, er sieht mich nicht an. Ab und an faltet er die Serviette auseinander, legt sie wieder liebevoll zusammen und streicht sich über das Haupthaar. Wie gut er das kennt.....

 

 

Auseinandersetzungen mit dem Vater, der nicht begreift und auch nie begreifen wird. Meine gestammelten Sätze sind nur hilflose Versuche, Unbegreifliches und nahezu Zerstörerisches so zu erklären und begreiflich zu machen, dass auch die ewig belehrenden Rechtfertigungs-Monologe und ermüdend in Gebetsmühlen-Manier wiederholten Doppel-Gegenanklagen ersterben und sich im Herbstnebel der Erinnerungen verlieren. Amschel räuspert sich und wirft kurz ein, als ich eine Pause mache: „Die Sicht aller Dinge ist stets subjektiv! Jeder trägt in sich eine andere, eine eigene Wahrheit. Der Mörder findet auch eine stichhaltige Erklärung dafür, dass er die Tat begangen hat - sonst könnte er ja nicht überleben, weder in der Zelle noch, so die Tat unentdeckt bleibt, in Freiheit. Er beruhigt sein Gewissen, träumt sich eine eigene Realität, betrügt das Unterbewusstsein - und schafft sich einen Rahmen, der ihm das Überleben in Schuld und Gewissenspein ermöglicht. So auch Deine Vorgehensweise, die sich in nichts unterscheidet von all den Leuten, die sich Dir gegenüber erklären müssten. Entscheidungen wurden getroffen, für Dich, gegen Dich - aber alles aus der Sicht des Individuums. Und ergo alles stets richtig, aus dem jeweiligen Moment der Situation heraus, so dass letztlich die realen Gegebenheiten zwar mehrere Möglichkeiten zuließen, aber nur diese eine für Dich zuzutreffen schien. Nenne es von mir aus „Schicksal“, nenne es unausweichliche Tragik des Lebens, es ist keines schlimmer und keines besser als Dein Schicksal. Hättest Du gern mit mir und meinem Schicksal im damaligen Prag der Jahrhundertwende getauscht?“. Diese Frage musste ich nicht beantworten. Fast amüsiert lächelnd dreht sich der Doktor ins Profil. Seine merkwürdig geformten Mr. Spock-Ohren, groß und etwas abstehend, fallen mir doch jetzt sehr extrem auf. Mein langer Blick auf seine Ohren lässt sein Gesicht erglühen. Auch ihm ist dieses „Ahnen“ ein vertrautes Gefühl, er weiß um meinen Blick, der ihm peinlich ist.... Also schaue  auch ich zum Opernhaus, dann zur Straßenbahnhaltestelle links daneben. Ich fahre fort mit meiner Erzählung. Hilfloses Flügelschlagen, aufgestellt wie ein Kegel von fremder Hand, irgendwo platziert - doch nie bleibe ich stehen. Stets kommt jemand, wirft mich um und stellt mich an einem anderen Ort wieder auf. Ich erzähle Franz Kafka im Café Slavia mein ganzes, verkorkstes Leben. Er schließt mitunter die Augen, fast so, als wolle er ein Nickerchen halten. Das ist jedoch nur äußerlich. Amschel lauscht sehr konzentriert.... Hartnäckig, wütend und bohrend laufen komplette Szenerien immanent einschneidender Begebenheiten in meinem Kopf ab, schrauben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis; verworren formen sich Gedanken, die in Reih und Glied gebracht werden müssen. Dr. Franz Kafkas messerscharfer Verstand seziert, wertet und analysiert das in vielerlei Hinsicht vorschnell Gesagte. Er hüstelt vorsichtig, wenn ich mich ein wenig verrenne, wenn ich unsachlich werde und abschweife. Er nickt bedächtig, wenn er begreift, versteht und erkennt. Nachsicht und Güte strahlt dieser Blick aus, der ab und an über mein erhitztes Gesicht huscht. Wenn einer weiß, wovon ich rede, dann ja wohl dieser geniale Mann, mein toter, legendärer Begleiter.

 

Ich rede über 2 Stunden. Ab und an fragt mich Franz Kafka etwas, er hakt mitunter nach, wirft einen Halbsatz ein, murmelt Unverständliches und rührt in seinem längst erkalteten Kaffee, den er bislang nicht einmal zum Mund geführt hat. Ich dagegen habe meinen dritten Tee vor mir stehen. „Ich muss hier raus“, rufe ich erregt, als ich bei der Szene bin, da ich erkenne, dass alles, aber auch alles, was ich in nahezu dreißig Jahren erreicht habe, eine Drehung um die eigene Achse gewesen ist. Kafka nickt auch jetzt nur ganz sacht, fingert zwei Scheine aus dem Mantel und wirft sie auf den Tisch des großräumigen Cafés. „Gehen wir“, ruft er, fast munter, und schlingt sich in der Nasskälte des Novembernachmittags erneut den dicken Schal um den schlanken Hals mit dem prägnanten Adamsapfel. Ein wenig übermütig hänge ich mich bei ihm, dem Jüngeren, ein. Er lässt es geschehen. „Wohin wollen wir jetzt gehen?“, frage ich ihn. Er antwortet nicht, schreitet aber rüstig aus, hat eine klare Richtung. Es geht bergauf. Wir streben dem Hradschin zu. Zusammen mit Amerikanern, Japanern, Deutschen, Holländern, Franzosen und erstaunlich vielen Briten. Kafka, das neue Idol, bleibt unerkannt.

 

„Schau auf die Stadt hinunter, Herschel“, verlangt Kafka, ebenso wie ich ein wenig außer Atem, als wir oben angekommen sind. „Nu, was siehst Du???“. Ich verstehe nicht. „Hektik, pulsierendes Leben, Geschäftigkeit, Verlogenes und Wahres, Reines und Verderbtes, Klarheit und die totale Verwirrung. Es ist mein Mütterchen Prag, eine Stadt wie keine! Heute wie gestern in jeder Hinsicht schaurig-schön, eine Stadt mit Krallen, die Dich nicht mehr loslassen, wenn Du ihnen einmal zu nahe gekommen bist - und sie Dich erst haben packen können. Sieh Dich nur vor, diese Stadt ist nicht ungefährlich. Ich selbst habe ein halbes Leben lang versucht, von hier weg zu kommen. Es ist mir letztlich nie wirklich geglückt. Und doch ist es eine Stadt wie fast jede andere auch im heutigen 21. Jahrhundert. Im Wandel begriffen, unklar, ob in absehbarer Zeit - und das ist relativ gesehen - dem Verderben preis gegeben, ja, oder zu noch unglaublicherer Pracht, erhabener Schönheit erblühend. Vielleicht dereinst das Zentrum der europäischen Ars Nova, sozusagen das „Nova Svet“ ganz Europas. Ich würde es mir sehr wünschen.“. Sehr sorgenvoll das Gesicht meines Begleiters. Wir sehen auf dieses Prag hinab. Der herrliche Hradschin als „Touristenattraktion“ par excellence interessiert uns nicht. Wir atmen die Sprachenvielfalt, sehen neben uns ein österreichisches Ehepaar, aufgeregt parlierend, keine zwei Meter daneben zwei extrem laut schnatternde Engländerinnen, die sich in Superlativen über den Ausblick ergehen. Dazwischen ein laut streitendes Ehepaar aus Spanien. Er will pausieren, sie will noch so viel sehen. Man ist sich nicht einig. Der Bier- und Würstchenstand lockt. Wir hören all dem fasziniert zu.

Ich fasse es nicht, da will ein "Aussie" Bonsai-Baobabs verkaufen. Erstaunlich...

Kafka wendet sich nach langem Schweigen ab. Er berührt mich am Ärmel. Ich folge seinem ausgestreckten Arm. Er zeigt auf einen Punkt. Ich erkenne ihn nun. Es ist eine Dohle, die auf einem nahen Baum thront und uns belustigt betrachtet. „Kavka.... Dohle!“, sagt Franz leise und ich verstehe. Nach unendlich langer Zeit sieht mich Franz Kafka wieder einmal voll an. „Amschel Dohle, welch schöner, seltener Name. Und sehr jüdisch“, sage ich ebenso leise zu ihm hinüber und er lächelt, lächelt wirklich. Ich könnte ihn in diesem Moment küssen, mitten auf den Mund. Wüsste er, wie schön er sein kann, wenn er lächelt......  Begeistert trinke ich seinen doch auch irgendwie glutvollen Blick aus betörend großen und pechschwarzen Augen, in welche einzutauchen wohl nur wenigen Menschen so vergönnt war wie jetzt mir in diesem Moment. Mag sein, dass auch dieser kurze „Augenblick“ einige Pein für den so scheuen Mann bedeutet, doch grenzenlos egoistisch und quasi distanzlos koste ich diesen besonderen Moment aus. Wir sehen uns lange an. Ich könnte in diesen düsteren Augenteichen leicht ertrinken! Endlich wendet Kafka den Blick ab. Zu intim ist diese Situation für ihn gewesen. Die Augen als Fenster zur Seele....  Wer hatte das noch mal gesagt? - Es fällt mir nicht mehr ein. Endlich gehen wir weiter. Behutsam, zögerlich, schlendernd, langsam. Wieder lasse ich mich von Dr. Franz Kafka führen.

 

Nach langem, anstrengendem Fußmarsch sind wir im Judenviertel in der ehemaligen Josefstadt angelangt. Dort führt er mich mit echt schelmischem Große Jungen-Grinsen, das ihm sehr gut zu Gesichte steht, ins Café Franz Kafka. Eitelkeit ist eine Seite an diesem großen Schriftsteller, die er mit vielen seiner Kollegen in der ganzen Welt teilt. Eitelkeit und Zweifel, die tragenden Pfeiler einer kranken Persönlichkeit, die mehr an sich selbst denn an der Umwelt verzweifelt. Wir trinken Cappuccino, rühren etwas zu lange in den kleinen Tässchen und sinnen vor uns hin. Es ist junges Publikum, das sich hier versammelt hat. Man hört moderne Musik. An den Wänden Zitate und Satzfetzen Franz Kafkas, die mein Gegenüber nicht einmal richtig wahrzunehmen scheint. Ich mache ihn nun darauf aufmerksam, deute etwas arglos auf das Wort „Gefängniszelle“, zeige auf das Foto seiner Schwestern, zeige ihm seine Eltern, deute lächelnd auf einen in holprigem Deutsch verfassten Satz, natürlich sehr stark aus dem Zusammenhang gerissen und daher wert- und sinnfrei dort an der Wand prangend; und ich rede munter auf ihn ein, auf ihn, der hier in „seinem“ Café unerkannt bleibt. Einer unter vielen, der in dem kleinen Tässchen rührt und ernst vor sich hin starrt.... Keine meiner Bemerkungen quittiert der Doktor auch nur mit einer Geste, mit nur einem Wort, mit einem Lächeln. Die Bilder kennt er zur Genüge, die erst seit der „Wende“ um ihn herum aufgebaute Idealisierung seiner Person macht ihm einige Probleme. Kafka kann kaum verstehen, dass ausgerechnet diese Jugend ihn zu ihrem Idol erkoren hat. Warum? Er versteht es nicht. Sieht er doch sein Leben als gescheitert an, als ein nutzloses Aneinanderreihen von Jahren, als ein sinnloses Bekritzeln von leeren Blättern, eben als einen Versuch! Und wie kann man so einen, der lediglich nur alles versucht und nie etwas zu Ende geführt hat, wirklich tief verehren? Ihm nacheifern? Ihm? Warum werden T-Shirts und Tassen mit seinem Konterfei verkauft? Warum kleine Marionetten mit seinem Gesicht in der Nähe der Alt-Neu-Synagoge verkauft? Warum tragen Taschen, Tassen, Silberlöffel und Base-Caps sein Konterfei? Muss die Jugend mangels besserer Vorbilder sich nunmehr an verlorenen Seelen orientieren, an „gescheiterten“ Existenzen, an solch kranken Persönlichkeitsstrukturen, an hilflosen Menschen? Muss sie das??

Kurt Cobain und Franz Kafka!

Amschel schaut mich traurig an. Doch in seinem Blick liegt noch mehr. Es ist ein Blick, der das auszudrücken versucht, was ich im Slavia in Worte zu fassen versucht hatte. Das vermeintlich Unaussprechliche aussprechen wollen - und es allen verständlich ins Hirn brüllen! Das war Kafkas Anspruch...  Und doch auch der meinige! Und beide haben wir es nie geschafft, wirklich Alles auf den Punkt zu bringen. Das Aha-Erlebnis beim Leser bleibt aus, nur die Wissenden können eventuell erahnen, um was es hier geht. Und es ist etwas sehr Hehres, Großes, immens Wichtiges, für das es sich stets zu schreiben ja letztlich lohnt - fände man nur die Worte, die in jedwedes Ohr zu dringen in der Lage wären. Erkenntnis auslösend, Veränderungen mit sich bringend, Wahrheiten ans Tageslicht befördernd, Undurchdringliches beleuchtend – ist das nicht des Schriftstellers Traum? Amschel wie auch ich, wir können nur in Parabeln, in grotesk verzerrten Traumbildern und in verschlüsselten Szenarien Menschen hilflos agieren lassen. Was wollen wir aufzeigen? Die Ohnmacht vor Gott und dem Schicksal? Die Allgewalt der Maschinerie, die Omnipotenz Gottes, den der Mensch niemals begreifen wird, vom Menschen selbst so erschaffen? Der „Apparat“, den es zu bekämpfen längst keinen Grund mehr gibt, weil ja mittlerweile genau dieser Apparat auch das bislang letzte, noch „unverdorbene“ Individuum geschluckt und verdaut wieder ausgespuckt hat. Vermittle den Menschen den ausweglosen Kampf gegen die Macht und die Finsternis - unter dieser Prämisse tritt, wenig souverän, kurz nach der Jahrhundertwende ein junger Prager Autor und Schriftsteller an, schwer an sich selbst und an seiner Mission zweifelnd. Bin ich gut genug? Angesichts der damals bereits berühmten „Kollegen“ eine berechtigte Frage. Ich sehe Kafka voll an und frage provozierend: „Kannst Du heute verstehen - ich meine HEUTE - dass Max Brod Deine Werke nicht vernichten KONNTE?!“. Franz antwortet nicht, er führt den Cappuccino zur Unterlippe, trinkt jedoch nicht. Er leckt nur den Schaum von der Lippe, so genießerisch und verspielt, ganz so, als sei er bereits mit diesem winzigen Kontakt zur aufgeschäumten Flüssigkeit zufrieden - und müsse nun das eigentliche Hochvergnügen des Trinkens erst gar nicht mehr auskosten. Ein befremdliches Verhalten eines sehr merkwürdigen Mannes, welches sich bei näherem Betrachten als konsequentes Bemühen um Stil, Haltung und unverkrampfte Gelassenheit entpuppt - und in seiner ganzen Art und Weise die verkrüppelte Psyche F. Kafkas widerspiegelt. Ich schweige. Schweige…

 

Wir reden nun lange nicht mehr miteinander. Später, erst sehr viel später, wir gehen gerade am koscheren Restaurant „Shalom“ vorbei, sagt er leise, wie es seine Art ist: „Einen Großteil der Manuskripte hätte ich gern selbst ins Feuer geworfen, wenn ich es nur gekonnt hätte! Doch, ja.... da gibt es auch einiges, was durchaus aufbewahrenswert schien - und bis heute auch scheint!“. Ein erstaunlicher Satz eines Mannes, der heute zu den absolut bedeutendsten Autoren aller Zeiten gezählt werden muss. Und wer seine Selbstzweifel kennt, der weiß auch diesen beinahe „dreisten“ Satz richtig einzuordnen! Ich jedenfalls antwortete nichts darauf, nickte nur bedächtig. Wie gern hätte ich ihn gefragt, wie er sich das Ende seines Romanfragments AMERIKA vorgestellt hatte...

 

Im Judenviertel halten wir uns nicht lange auf. Spät am Abend sitzen wir im „Repräsentationshaus“, oben links im Erdgeschoß - gegenüber dem teuren französischen Restaurant, wo die „besser betuchten Prager“ und natürlich die reichen Touristen zu dinieren pflegen. Wir trinken Apfelschorle und zwei Marillenlikör, hernach Espresso und Cognac. Wir sind etwas müde, haben die ganze lange Zeit über nichts gegessen und ich sehne mich nach Ruhe und nach Entspannung. Ich lasse mir ein belegtes Baguette und eine heiße Gulasch-Suppe kommen, Amschel bestellt Palatschinken. Schweigend essen wir jetzt. Nach einer langen Pause, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen ist, beginne ich wieder dort, wo ich im „Slavia“ aufgehört hatte. Franz schweigt und sieht mich hin und wieder wie prüfend an, so, als wolle er das Gesagte durch Blickkontakt in den Stand der Wahrheit oder in das Land der Lügen erheben oder verbannen. Ich kann mitunter seinem Blick kaum Stand halten.... So ungewöhnlich sanft seine Augen auch auf mir ruhen, sie beunruhigen bei längerem Blickkontakt. Obschon sie weder flackern noch fiebrig glänzen, es ist diese unglaubliche Ruhe und wohl auch unduldsame „Strenge“, die von ihnen ausgeht. Ich fühle mich, wie schon erwähnt, ertappt bei Dingen, die normal und menschlich sind, aber möglicherweise in Kafkas Sinne „peinlich“ und eben nicht entschuldbar sein könnten. Wäre ich bei ihm Zuhause und müßte auf die Toilette, ich würde es nicht schaffen, ihn darum zu bitten, mir zu zeigen, wo die "Örtlichkeiten" befinden. Solch banale Thematik auch nur zu streifen, scheint im Beisein dieses empfindsamen Mannes völlig unmöglich... Ich erzähle von drei schlimmen Ehen - und sehe, dass Franz seine Stirn in Falten zieht. Seine drei gescheiterten Verlobungen mit 2 Frauen – Parallelen??? Ich wage ja ab und an, von Seelen- oder (so vermessen! So vermessen!) Geistesverwandtschaft zu reden zwischen dem Doktor und mir - ich weiß, es ist mehr als dreist, kühn und keck, sich mit diesem Dichterfürsten messen zu wollen.... Aber Parallelen? Wer kann ermessen, welch großes Leid dieser meistens stille, in sich gekehrte Mann mit sich herumzuschleppen hatte ein kurzes, „ereignisloses“ Leben lang?? Welche Qualen! Selbstzweifel! Dramatisches Scheitern in seltenen Phasen des überschäumenden Glücks. Jede Fährte führte zur Falle. Ich kenne dieses Phänomen! Du bist verdammt zu leben - kannst nicht entfliehen, darfst dich nicht umbringen, musst ausharren und weißt sehr genau um das tragische Ende. Kafka hängt an meinen Lippen, endlich erreiche ich ihn, endlich schaffe ich es, ihm die Tragweite meines Scheiterns näher zu bringen. Ich erzähle von Drogenkonsum, von Orientierungslosigkeit, von hoffnungslosen Versuchen, über gewaltige Lügengebäude einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, um letztlich nur noch tiefer in den Strudel der Verdammnis geworfen zu werden. Ich berichte von entsetzlich ausschweifenden Orgien eines kranken Gemüts, eines falsch gepolten Verstandes, einer fehlgeleiteten Persönlichkeitsstruktur mit extremen Charakterfehlern. Ich berichte Kafka viel zu laut, so dass man bereits am Nebentisch aufmerksam wird - Amschel versucht durch eine nur halb ausgeführte Handbewegung, mich zur Mäßigung aufzurufen - und ich erzähle viel zu viel. Alkohol, all die vielen Drogen, und die Maßlosigkeit, diese Eitelkeit, Selbstüberschätzung, Lieblosigkeit gegen meine eigene Person und gegen alle meine Mitmenschen; ja, ich lege eine sehr konkrete, beeindruckend ehrliche Beichte über mein generelles Scheitern ab. Kafka schweigt und lauscht. Ob innerlich berührt, ob vollkommen kalt geblieben bei all meinen Ausbrüchen (Kopfchaos pur!) ist mir bis heute ein Rätsel. Gleich bleibend bescheiden sitzt er da in seinem Mantel, den er nie auch nur ansatzweise geöffnet oder gar ausgezogen hätte, blickt mal mich und dann wieder den versilberten Pfefferstreuer vor uns an, hört zu, macht ab und an eine, wie ja stets, nur halb ausgeführte Bewegung mit dem rechten Arm - und bleibt stumm. Was erwarte ich denn auch? Lebenshilfe pur von einem vom Schicksal verdammten Menschen, der auch keine Rettung sah und sich ebenso wie ich mutig-hilflos durchs Leben schlug? Wie sagte noch Ingeborg Bachmann, die ebenfalls tragisch Gescheiterte?? „Der ich unter Menschen nicht leben kann..“. Ja, das mag, auf den Punkt gebracht, so in etwa unser beider Schicksal sein. Wir müssen, können aber nicht wirklich! Und sehen ein, dass wir letztlich doch müssen! Wir tun es daher, glauben an die Sinnlosigkeit des VERSUCHS, gehen aber mutig weiter. Oh, welch extrem masochistischer Antrieb! --- Lebenslust, Lebensangst, Lebenslüge - dies alles gepaart mit einer permanenten Schwermut, die alles überdacht und damit alles nur noch schwerer macht. Erneut rede ich:

„Und dann die Erkenntnis, dass jeder Weg eine Sackgasse ist, dass weder Alkohol noch Flucht in Drogen die Wahrheit oder die Freiheit bringt. Jede Wendung, Biegung, jedes Hakenschlagen, Umziehen, Weglaufen, jedwedes panische Flüchten führt zu immer derselben Erkenntnis: Es gibt kein Entrinnen! Du aber hast noch eine einzige Chance! Bist du zu schwach, um sie zu nutzen oder hast du am Ende sogar die Stärke, diese deine absolut letzte Chance selbstironisch zu zerstören? Hast du denn nicht immer schon an jedem Ast gesägt, der dich zu tragen in der Lage war? Warst du nicht stets bereit, alter Hasardeur, über Bord zu springen, wenn Schwierigkeiten auftauchten oder Verantwortung drohte? Selbstzerstörungsmechanismus... Wo war ich denn noch vor  Jahren?“, schreie ich in höchster Erregung hinaus. Ich hatte mich in einen Rausch der Verdammnis geredet - jetzt sollte auch noch das letzte bisschen Würde mit Angst und Ekel ausgespieen werden. „Widerlich!“, brülle ich und bin nicht zu beruhigen. Wir müssen die Lokalität verlassen, sonst hätten die Kellner die Polizei geholt. Draußen hole ich tief Luft, zünde mir eine Zigarette an. Ich bin mit den Nerven fertig. „Ich bin ein widerliches Insekt! Ein peinliches, verkommenes Subjekt, tief unter allem Getier vegetierend, ja, näher dem Gewürm im dunklen Erdenreich als allem, was sich menschlich schimpft!“. Ich ergehe mich in schweren Selbstvorwürfen. Ich erschauere unter der Last meiner Schwäche über all die Jahrzehnte, ich erzittere unter all dem Selbstbetrug und unter all dieser Lügenmaschinerie, die ich aufgebaut hatte über die Jahrzehnte der Hilflosigkeit und der Ohnmacht gegenüber einer grenzenlosen Labilität und selbst gewählten Resignation. Kafka zieht mich in Richtung Hotel zurück. Er geht rasch, so dass ich kaum folgen kann. Fuchtelnd, immer noch immens aufgebracht, rede ich immer noch weiter. Passanten bleiben stehen und betrachten das befremdlich anmutende Pärchen dort. Der eine, wild gestikulierend und anscheinend grobe, laute Selbstgespräche haltend; der andere, mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen, den Kopf fest zwischen den verkrampft hoch gezogenen Schultern versteckend, hutlos, anscheinend völlig unbeteiligt, stumm und relativ rasch ausschreitend. Endlich sind wir am Ziel. Wir nehmen die Treppen!

 

Im Hotel lege ich mich aufs Bett, schweige einige Minuten. „Ich bin von mir selbst angewidert“, sage ich, ruhiger werdend. Der lange Fußmarsch von über 2 Stunden hatte mich vollends geschafft. Dem Doktor schien dieser Gewaltmarsch kaum etwas ausgemacht zu haben. Jetzt sitzt er wieder wie heute früh auf dem zweiten Bett. Ich schaue in den Spiegel, sehe ihn mir an und denke im Stillen darüber nach, ob er jetzt wohl gerne wieder für sich allein wäre. Allein und einsam, so, wie er es so oft schon in seinem Leben gewesen ist und wie er es auch so oft selbst gewählt hatte. Schlussendlich!

 

„Ich war obdachlos, ein jeglicher eigener Würde beraubtes Tier, wild um sich schlagend, beißend, mit Wut entstelltem, fratzenhaftem Gesicht. Eine Bestie namens Mensch, mit Abgründen, die Du Dir kaum je vorzustellen vermagst - und das bei Deiner Fantasie!“ — Amschel Dohle sieht nun ebenfalls in den Spiegel, sucht so meinen Blick und spricht fest und klar: „Ja und wo bist Du heute, Herschel? Sieh doch, wo Du stehst und wo Du bist. In Prag! Hättest Du Dir das noch vor 4 Jahren träumen lassen? Du in Prag! Die Synagogen hast Du gesehen! Du warst auch mit der Metro hier unterwegs, spaziertest über den Altstädter Ring, Wenzelsplatz und auch das Künstlerviertel, das „Montmartre von Prag“, Du hast mit Deiner lieben Lebensgefährtin böhmische Knödel mit Ente gegessen, Du hast herrliche Jugendstil-Gebäude schauen dürfen, hast im Café Europa gesessen und Du hast mit Chi zusammen die „Astronomische Uhr“ bestaunt. Du weißt, wo das Restaurant „David“ ist, Du hast den „alten jüdischen Friedhof“ hier besucht, Du warst mit Deiner Liebsten zusammen im Repräsentationshaus; tja, und Du darfst Dich glücklich schätzen, Dixieland-Jazz im November auf der Karlsbrücke gehört zu haben! Was glaubst Du denn eigentlich, wer das alles geschafft hat??“. Wieder schlugen mich seine Augen in seinen Bann! Diese Augen...

 

Kafka sieht mich sehr ernst, fast ein wenig vorwurfsvoll an. Ich erröte unter diesem Blick ein wenig, senke die Augen, schaue auf meine Fußspitzen.... Es ist schwer, sich diesen Argumenten zu entziehen. „Denn was Du alles geschafft hast in den letzten 9 Jahren - das ringt mir persönlich eine ganze Portion an Respekt ab, Herschel! Du allein hast das gemacht! Mit Deinem Willen, mit Deiner Persönlichkeit, mit Deinem ureigenen Mut zum weiteren Überleben. Du hast Dich entschieden, nämlich für das Leben und für die Liebe! Jetzt hast Du eine Wohnung, eine Arbeit in einer holländischen Krankengymnastik-Praxis, eine liebenswerte, hübsche Freundin und Du hast sogar dadurch Familienanbindung! Oi Herschele - sog´, ist dos nischt???“. Hörte ich da eine leichte Andeutung von „Jiddeln“ bei Amschel? Überrascht blicke ich mich um. Doch da ist niemand. Es ist kein anderer im Raum.... Ich bin mit mir allein! Wo ist Franze Kafky (so lautet die tschechische Schreibweise)?

 

Fassungslos sitze ich auf dem Bett und staune. Das alles konnte ich doch nicht geträumt haben?! Da geht die Tür zum Badezimmer auf und Chi ist frisch geduscht exakt dort, wo eben noch der Doktor gesessen hatte. Ich muss sie sehr merkwürdig angesehen haben, denn sie sagt: „Was ist, Du kannst ja gleich in das Badezimmer. Noch ist alles vernebelt, warte ein kleines Weilchen, bis der Spiegel klar ist und sich die Nebelschwaden verzogen haben. Was schaust Du mich so an?“. Ich schaue auf die Uhr. Guter Gott, es ist halb acht Uhr morgens und nichts von dem, was ich da zusammen fantasiert habe, ist wirklich geschehen. Weder hatte mich Franz Kafka besucht, noch war ich bis fast ein Uhr nachts mit ihm durch Prag gezogen.

 

„Was liegt denn heute für ein Programm an?“, frage ich Chi, um überhaupt mal etwas zu sagen und mit diesem Glotzen und Nicht-Begreifen aufzuhören. „Das ist aber doch sehr, sehr merkwürdig!“, antwortet sie. „DAS hast Du vergessen, sag´? Heute willst Du doch mit mir zu Franzl Kafkas Grab zum Straschnitzer Friedhof, Mann! Hast Du das wirklich vergessen? Außerdem wollen wir zum Geburtshaus Kafkas, zum Kinsky- und zum Schönborn-Palais, wir wollen das Haus Oppelt und das Haus Minutá anschauen gehen und wir haben vor, die Häuser Bilková 10, Zeltnergasse 3 und die Lange Gasse 18 zu besichtigen - wir wollen das Bürohaus Poric 7 und das Haus in der Alchimistengasse sehen. Alles schon wieder vergessen? Du wirst endlich am Grab des für Dich wohl größten Autors aller Zeiten stehen! Du wirst sein Geburtshaus sehen und wirst Dich ausgiebig im kleinen Kafka-Museum in diesem Geburtshaus umschauen dürfen. Freu´ Dich also, mein lieber Freund, denn heute ist ein besonderer Tag für Dich.... Na, Du schaust ja sehr verwirrt drein...“.  Chi kommt näher und nimmt mich in die Arme. Eine wohltuende Geste, ein so angenehmes Gefühl. Dankbar schließe ich meine Arme um diese hübsche, geliebte Frau und drücke sie fest an mich.

 

„Weißt Du eigentlich, liebster Spatz“, sage ich beinahe feierlich, „dass das alles ein gänzlich unvergleichlich unverdientes und kaum zu fassendes Glück ist, hier mit Dir in Prag sein zu dürfen?“. Lange küssen wir uns nun. Selig sieht mich mein liebster Mensch auf Erden an. „Schön hast Du das gesagt. Ja, und es stimmt. Es ist ein großes Glück! Ich genieße es... Und weißt Du was, mein Felltier? Wir werden noch viele solch schöne, seltene Momente genießen können zusammen, wenn wir nur WOLLEN! --- Willst Du? Ja???“. Statt einer Antwort küsse ich diese Frau erneut, die mich doch immer wieder zum Erkennen, zum Staunen und zum demütigen Begreifen bringt. Es ist ja wahr: Noch vor fast 10 Jahren schien dies alles hier völlig undenkbar. Arbeit, Freundin, Wohnung, Perspektive, Reisen, Geld auf der Bank, kleine Freuden - und Familie!! Nach Jahren der „Eiszeit“ Kontakt mit der eigenen Familie - und ganz besonders herzlicher Kontakt und wirkliche „Aufnahme in den Schoß der Familie“, was Chis Leute angeht. Wie gut ich mich mit ihrer Mutter verstehe, wie sehr ich ihren Bruder mag, wie gut ich mit ihr selbst auskomme, wie lieb ich sie habe.... Ich seufze, so, wie sonst nur Kafka all die Zeit, die ich mir „erträumt“ hatte, geseufzt hatte. „Ab ins Bad mit Dir, der Spiegel ist jetzt klar!“, reißt mich Chi da aus meinen Träumen. „Mach voran, ich habe einen Riesenhunger! Ich will nun gleich mächtig viel frühstücken, um fit genug zu sein, dem gewaltigen Programm stand zu halten, welches wir uns für heute vorgenommen haben“. Noch einmal drücke und küsse ich die süße Frau, die mir so viel bedeutet, dann gehe ich wohl gelaunt ins Bad. Zuvor schaue ich noch mal in den Spiegel. Kein Kafka. Ich hatte ihn auch nicht erwartet.

 

Unter dem heißen Strahl singe ich viel zu laut. „Figaro, Figaro, Fiiiigaaroooo“, trällere ich leichtsinnigerweise vor mich hin, hernach bemühe ich noch einige Klassiker, dann rufe ich so laut ich kann: „Und es geht doch!“. Chi reißt die Tür zum Bad auf, steht in den von mir verursachten Dämpfen und ruft: „Was hast Du da gerade gebrüllt, Herschel?“. Ich grinse und sage entspannt: „Und es geht doch! Stimmt´s etwa nicht?“. Chi läßt die Schiebetür sanft zurück gleiten, zieht sich rasch aus und kommt zu mir unter die Dusche...

 

„Ich dachte, Du hättest schon geduscht!“, sage ich gespielt erstaunt. Chi lacht nur und antwortet: „Wer so etwas Schönes sagt, soll auch dafür belohnt werden! Weißt Du, dass das mit das Schönste ist, was Du seit vielen Monaten gesagt hast? .... Und es geht doch!!! Finde ich toll. Weißt Du, es wäre schön, wenn Du diese Erkenntnis, mit die positivste, die Du je gehabt hast, in ein paar schöne Sätze kleiden könntest. Wie wäre es, wenn Du eine Kurzgeschichte schreibst - und zwar genau unter diesem Titel? - Was hältst Du davon, Du Glückspilz?“. Sprach´s und seifte mich kräftig ein. Wir kamen erst kurz vor Ende des Frühstückbüffets in den Speisesaal. Beinahe hätte uns ein Duschmarathon um ein reichhaltiges und gutes Frühstück gebracht. So aber konnten wir uns vor unserer großen „Kafka“-Tour nochmals so richtig stärken. Dann brachen wir auf. Unvergessene Stunden lagen vor uns, der Geist Kafkas schien zum Greifen nahe. Oftmals schaute ich mich um, ob Amschel sich denn nochmals zeigen würde. Er zeigte sich nicht.... Konsequent, dachte ich. Er zeigte sich überhaupt nie mehr.

 

Nicht einmal an seinem Grab. Und das musste er auch nicht mehr. Ich hatte verstanden! Das, was er mir sagen wollte, das, was Chi mir sagen wollte, das, was das Leben mir bereits öfters mitzuteilen versucht hatte, war doch:

 

 

„LEBE DEIN LEBEN, ERFREUE DICH DER KLEINEN DINGE, GEHE BEHUTSAM MIT DIR UND DEINEN LIEBSTEN MENSCHEN UM, BESCHEIDE DICH, BEMÜHE DICH UM DEMUT UND SPÜRE, DASS ES EINE LUST IST, ZU LEBEN!“

 

Ich werde die Zeit mit Chi und der mysteriösen Erscheinung des Franz Kafka in Prag niemals vergessen! Ich habe keiner Menschenseele davon erzählt. Ich wette, diese Geschichte hätte mir auch kein Mensch geglaubt.

Mir war ein längeres Glück mit
Chi nicht vergönnt. Mit mir hält es
eben keine Frau auf Dauer aus…

E N D E ???

 

Meiner Treu´, nein. Ich muss, auf Anraten eines gewissen Herrn, noch etwas nachtragen, ohne nachtragend zu sein! Mailt mir da doch so eine pedantische Krämerseele aus Schnupfen (Texas, USA), ein Dr. Elmer Notstopfen, dass auf der vorigen Seite "Der Schriftsteller" etwas fehlt. Bei den "HUISREGELS" fehle Punkt 7, so Dr. Notstopfen. Da er gar so quengelte und moserte, habe ich mich entschlossen, hier, ganz zum Schluss dieser Seite, seinem Drängen und recht nervigen Werben nachzugeben. Ich bringe also Punkt 7 der HUISREGELS hier und jetzt, nur der Vollständigkeit halber:

7. Koop geen hard- of softdrugs op straat!

So, und ich hoffe, Sie sind zufrieden, Elmer Notstopfen! Und, bitte, schreiben Sie mir nicht wieder. Danke!

 

E N D E

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PADIAMÉNOPÉ BA PALLAWATSCH INC. | gherkin@hotmail.de

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